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Belgische Aktenstücke 1905-1914 (Typescript 6 t/m 10)

Berichte der belgischen Vertreter in Berlin, London und Paris an den Minister des Aeußeren in Brüssel – Herausgegeben vom Auswärtigen Amt. / Berlin – Ernst Siegfried Mittler und Sohn, Königliche Hofbuchhandlung, Kochstraße 68-71

Belgische Aktenstücke

 

Die Archive der belgischen Regierung haben bereits verschiedene Dokumente von geschichtlicher Bedeutung zutage gefördert. Erneute Nachforschungen haben zum Auffinden weiteren wertvollen Materials, nämlich der Berichte der belgischen Gesandten im Auslande an die belgische Regierung, geführt. Die aufgefundenen gesandtschaftlichen Berichte bieten ein ungewönliches Interesse als Quellenmaterial für die Vorgeschichte des Krieges. Ihre Bedeutung liegt darin, daß sie geschrieben sind von den Vertretern eines Staates, der an der großen Weltpolitik nur mittelbar, sozusagen nur als Zuschauer beteiligt war. Die Berichte können daher den Anspruch erheben, als eine objektive diplomatische Darstellung der internationalen Politik vor dem Kriegsausbruch zu gelten. Zieht man die Sympathien des ganz dem französischen Einfluß verfallen belgischen Volkes für die Westmächte in Betracht, Sympathien, die ihren Ausdruck fanden in der feindseligen Haltung, die die gesamte belgische Presse Deutschland gegenüber stets eingenommen hat, so ist es um so bemerkenswerter, daß die Berichterstattung der belgischen Gesandten ein Anklagematerial gegen die Politik der Ententemächte enthält, wie es vernichtender kaum gedacht werden kann.

Im folgenden wird eine Anzahl von Berichten der belgischen Gesandten in Berlin, London und Paris aus den Jahren 1905 bis 1914 veröffentlicht, in denen in der denkbar prägnantesten Form hervortritt, daß es die im Jahre 1904 von England eingeleitete, gegen Deutschland gerichtete Ententepolitik gewesen ist, die tiefe Spaltungen in Europa hervorgerufen hat, welche schließlich zum gegenwärtigen Kriege führten. Die englische Regierung als Triebfeder, König Eduard VII. als Bannerträger der auf die Isolierung Deutschlands gerichteten Bestrebungen der Entente bilden ein immer wiederkehrendes Thema der Berichte. Mit großem Scharfblick haben die Gesandten schon sehr früh erkannt, wie er durch den Dreibund während Jahrzehnten gesicherte Weltfriede durch die politischen Bestrebungen der Entente gefährdet wurde. Daß der englischen Feindseligkeiten gegen Deutschland lediglich die Eifersucht Englands auf die Entwicklung Deutschlands in industrieller und kommerzieller Hinsicht sowie auf das Erblühen der deutschen Handelsflotte zugrunde lag, findet in den Urteilen der belgischen Gesandten volle Bestätigung. Die englische Überhebung und die Ansprüche Englands auf Monopolisierung des Welthandels und beherrschung der Meere, das Treiben der englischen Hetzpresse werden gebührend gekennzeichnet.

Die Unaufrichtigkeit der französischen Marokkopolitik, die fortgesetzten Vertragsbrüche Deutschland gegenüber, die sich Frankreich mit Unterstützung Englands in Marokko hat zuschulden kommen lassen, werden festgestellt. Auf das bedrohliche Anwachsen des französischen Chauvinismus und das Wiederaufleben der deutsch-französischen Gegensätze als Ergebnis der Entente mit England wird hingewiesen. Umgekehrt finden die Friedensliebe des Deutschen Kaisers, die friedlichen Tendenzen der deutschen Politik und die große Langmut Deutschlands den Provokationen Englands und Frankreichs gegenüber volle Anerkennung.

Die lange Reihe der belgischen Berichte liefert den bündigen Beweis, daß diese kühl beobachtenden Diplomaten eine klare Vorstellung davon hatten, daß ein Kontinentalkrieg eine ernste Gefahr für ihr Vaterland bedeutete, daß Deutschland alles, was an ihm liege, getan habe, um ihm zu verhindern, daß das französische Volk ihn nicht wolle, aber von ehrgeizigen Politikern in einen Zustand überhitzter, chauvinistischer Leidenschaft versetzt worden sei, die ruhige Überlegung ausschließe; daß ebenso in Rußland der Ehrgeiz und die Rachsucht Iswolskys, sowie die panslawistische deutschfeindliche Presse einen Konflikt vorbereite, und daß endlich die von König Eduard VII. eingeleitete, von Sir E. Grey fortgesetzte Politik diese entwicklungen herbeigeführt und ihnen als Rückhalt gedient habe.

Es war ein Unglück für Belgien, daß es diesen Stimmen kein Gehör schenkte und die ihm zugestreckte deutsche Hand nicht ergriff, die bereit war und die Kraft hatte, dem Lande inmitten des Weltkrieges den Frieden und die Zukunft zu sichern.

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No. 6, pagina 6/7

Graf Ursel, Geschäftsträger Belgiens in Berlin, an Baron Favereau, Minister des Aeußeren.

Berlin, den 5 August 1905

Herr Baron!

Zwei sonst bedeutingslose deutsche Zeitungen, der “Reichsbote” und der “Staatsbürger”, hatten geglaubt, die Aufmerksaamkeit ihrer Leser auf die Gefahren hinlenken zu müssen, die aus den geplanten Manövern der englischen Flotte in der Ostsee für Deutschland erwachsen könnten. Sie schlugen vor, die Uferstaaten sollten fremden Flotten das Befahren der Ostsee verbieten. In einen am 30 Juli erschienen offiziösen Artikel hatte sich die “Kölnische Zeitung” bemüßigt gefühlt, die von den genannten Zeitungen geäußerten  Befürchtungen für völlig grundlos zu erklären: das britische Geschwader werde, wenn es die deutsche Küste anlaufe, den höflichen Empfang finden, auf den es nach den internationalen Gebräuchen Anspruch habe. Die Erregung der englische Presse ist kaum verständlich. Wenn sie fortfahren sollte, sich über ein paar deutsche Zeitungsartikel aufzuregen, so könnte man ihr entgegenhalten, daß seinerzeit der Besüch eines deutschen Geschwaders in Plymouth in der englischen Presse zu den allerpessimistischen Kommentaren Anlaß gegeben hatte.

Die kürzliche Rede des Zivillords der Admiralität ist zwar durch höheren Orts gegebene Erklärungen abgeschwächt worden, erbringt aber doch einen neuen Beweis von der wenig wohlwollenden Stimmung der englischen öffentlichen Meinung gegen Deutschland. Die “Norddeutsche Allgemeine Zeitung” veröffentlichte in der gestrigen Nummer einen Artikel aus dem “Fremdenblatt” in demselben Sinne. Das Wiener Blatt fügte hinzu, Deutschland und England könnten sich auf wirtschaftlichen Gebiet Konkurrenz machen, ohne daß daraus notgetragen politische Differenzen entstünden. Die “Norddeutsche Allgemeine Zeitung” schloß die Wiedergabe des Artikels aus dem “Fremdenblatt” mit dem Satz: “Wir hoffen, daß diese Gedanken jenseits des Kanals so aufgenommen werden, wie sie es verdienen.”

Es steht zu befürchten, daß dieser Wunsch platonisch bleiben wird. Die Rivalität zwischen England und Deutschland hat zu tiefliegende Gründe, als daß sie durch Worte wohlgesinnter Leute gebessert werden könnte. Die Engländer dulden keine Gefährdung ihres Handels und ihrer Seemacht. Die riesenhaften Fortschritte Deutschlands bedeuten für England eine beständige Drohung, und England scheut vor keinenm Mittel zurück, um diese Expansion zu hemmen. Die kürzliche Zusammenkunft des Deutschen Kaisers mit dem Zaren, der Besuch Kaiser Wilhelms in Kopenhagen, die Anwesenheit eines deutschen Geschwaders in dänischen Gewässern, – alles gibt der englischen Presse einen Vorwand, um sich in Beschuldigungen und Beschimpfungen Deutschlands zu ergehen. Wo immer England Deutschland Swierigkeiten bereiten kann, da nimmt es die Gelegenheid sofort wahr. Bezeichnend nach dieser Richtung ist auch die offenkundige Unterstützung, welche die Engländer der Aufständischen in Deutsch-Südwest Afrika zuteil werden ließen, indem sie ihnen die Eigenschaft als Kriegführende zuerkannten und die Durchfuhr von Lebensmitteln und Munition für die deutschen Truppen durch die Kapkolonie verboten.

Seit zwei Tagen spricht man von einer Zusammenkunft des Deutschen Kaisers mit dem König von England auf deutschen Boden. Man wird bezüglich ihrer Folgen für die Verbesserung der Beziehungen zwischen beiden Ländern skeptisch sein dürfen.

Genehmigen Sie usw.

(gez.) L. d’Ursel

No. 7, pagina 7/8

Graf Ursel, Geschäftsträger Belgiens in Berlin, an Baron Favereau, Minister des Aeußeren.

Berlin, den 22 August 1905

Herr Baron!

Unter dem 5 d. M. hatte ich die Ehre, über den Alarmruf zu berichten, der durch einige deutsche Zeitungen ging, als die Nachricht kam, ein englisches Geschwäder schicke sich an, in der Ostsee Manöver abzuhalten. Diese Zeitungen schlugen nichts Geringeres vor, als fremden Flotten die Einfahrt in die Ostsee zu untersagen. Offiziöse Erklärungen haben nun aber die Sachlage klar gestellt. Man wies darauf hin, daß  ein deutsches Geschwader an der englischen Küste vor Anker gegangen sei, ohne daß England es übel vermerkt hätte, und daß die internationale Höflichkeit es erfordere, den englischen Schiffen in Deutschland einen ebensolchen Empfang zu bereiten.

Dasselbe bringt der beigefügte offiziöse Artikel der “Norddeutsche Allgemeine Zeitung” in ihrer vorgestrigen Wochenübersicht zum Ausdruck. Im demselben wird gesagt, die englische Flotte werde während ihrer Manöver mehrere fremde Häfen und zwar in erste Linie deutsche Häfen anlaufen; es sei Pflicht der Bevölkerung dieser Städte, den englischen Offizieren und Mannschaften einen ebenso guten Empfang zu bereiten, wie ihn die deutsche Marine in England gefunden habe, wo die Behörden bemüht gewesen seien, den Fremden den Aufenthalt in ihrem Lande möglichst angenehm zu gestalten. Zum Schluß gibt der Artikel dem Wunsche Ausdruck, der Besuch des englischen Geschwaders möge dazu beitragen, die gegenseitige Achtung zu erhöhen, welche zwei große zivilisierte Völker einander schuldig seien.

Diese offizielle Wunsch dürfte leider nicht in Erfüllung gehen; die Erregung in der englischen Presse anläßlich der Marokko-Angelegenheit, die übertrieben begeisterte Aufnahme der französischen Seeleute in England, die kaum höflich zu nennende Haltung Köning Eduards VII., der wenige Kilometer vor der deutschen Grenze entfernt zur Kur weilt, ohne auch nur den Wunsch zu äußern, mit seinem Neffen zusammenzutreffen, – das alles sind hinreichende  Anzeichen englischer Mißgunst gegen Deutschland. Es wäre deshalb verwunderlich, wenn man den englischen Seeleuten mit mehr als strikter Höflichkeit begegnete. Der Magistrat von Swinemünde hat ein Beispiel solcher Zurückhaltung gegeben, indem er sich weigerte, für dem Empfang des Geschwaders Gelder zu bewilligen.

Genehmigen Sie usw.

(gez.) L. d’Ursel

No. 8, pagina 8/9/10

Baron Greindl, Gesandter Belgiens in Berlin, an Baron Favereau, Minister des Aeußeren.

Berlin, den 23 September 1905

Herr Baron!

Seit Jahren führen englische Zeitungen, an ihre Spitze die “National Review”, eine Campagne zugunsten einer englisch-russischen Annäherung. Nach Abschluß des englisch-französischen Vertrages ist die französische Diplomatie in derselben Richtung eifrig bemüht. Jetzt laufen andauernd Greüchte um, die Verhandlungen würden fortgeführt, und es gibt gewisse Anzeichen, auf Grund deren ich glaube, daß man ihnen besondere Aufmerksamkeit schenken muß. Wie ich höre, weist man in den Kreisen der Londener Hochfinanz den Gedanken, eine russische Anleihe in England aufzulegen, nicht mehr von der Hand. Vor kurzem nioch hätten die englischen Bankiers sich geweigert, eine derartige Möglichkeit auch nur zu erörtern.

Gestern habe ich Freiherrn von Richthofen gefragt, was von diesen Gerüchten zu halten sei. Er entgegnete, es gäbe sicherlich besonders in den hohen und höchsten Kreisen in England eine Strömung zugunsten einer Annäherung an Rußland. Ich unterbrach Baron Richthofen uns sagte, man vermute in der Tat, daß der König von England einen derartigen Plan habe und sogar mit dem Kaiser bei der letzten Zusammenkunft darüber gesprochen habe. Der Staatssekretär widersprach dem nicht.

Im weitern Verlaufe des Gesprächs meinte dann Freiherr v. Richthofen, daß trotz Delcassés Sturz eine starke Partei in Frankreich fortbestünde, die die Politik des früheren auswärtigen Ministers fotsetzen woll. Schließlich spiele bei all diesen Kombinationen die Feindschaft gegen Deutschland eine Rolle. Der Staatssekretär glaubt jedoch nicht, daß die Gefahr sehr groß sei. Für eine Entente zwischen England und Rußland fehlten die Grundlagen. Sie würde dem Bündnis widersprechen, das am 12 August d. J. zwischen England und Japan geschlossen wurde.

Gegen wen könnte denn jenes Bündnis gerichtet sein, es sei den gegen das Zarenreich? Der Plan eines englisch-russischen Bündisses passe auch nicht in den Rahmen der deutschfreundlichen Sprache, die Witte eben in Paris geführt habe. Der russische Ministerpräsident werde nach St. Petersburg zurückkehren und werde dort zweifellos ein Wort mitzureden haben. Wenn ein abkommen zwischen England und Rußland bevorstehe, wäre Witte sicherlich auch nach London gegangen. Er habe sich indes darauf beschränkt, Paris und Berlin zu besuchen, und werde außer Loubet und dem Bdeutschen Kaiser kein anderes Staasoberhaupt besuchen.

Ich erwiderte, daß Witte trotz des ungeheuren Dienstes, den er Rußland soeben erwiesen habe, bei Hofe ziemlich schlecht angeschrieben sein solle. Baron Richthofen meinte, Witte habe nur schlechte Manieren und sage rücksichtslos, was er denke. Aus diesem Grunde sei er bei den Großfürsten nicht beliebt; aber er sei ein Mann dessen Autorität ins Gewicht falle und mit dessen Ansicht gerechnet werden müsse.

Von unserem Standpunkt aus wäre es zu wünschen, daß der Staatssekretär recht behielte. Der von Deutschland geleitete Dreibund hat uns dreißig Friedensjahre in Europa beschert. Jetzt ist er durch den Zustand der Auflösung geschwächt, in dem sich Oesterreich-Ungarn befindet. Die neue französisch-englisch-russische Triple-Entente würde kein ersatz sein, sondern im Gegenteil eine Ursache dauernder Beunruhigung. Dieses Gefühl ist hier so stark ausgeprägt, daß der Kaiser einen Angriff des mit England verbündeten Frankreich für nahe bevorstehend hielt, als man im Anfang vorigen Jahres erfuhr, zwischen Paris und London werde eifrig verhandelt, ohne daß der Gegenstand der Verhandlungen näher bekannt war.

Trotz der sehr großen Schwierigkeiten ist die Möglichkeit einer Annäherung zwischen London und St. Petersburg nicht mehr ausgeschlossen. Sie werden bemerkt haben, daß der Staatssekretär sie nur fur unwahrscheinlich hält. Die Entente zwischen Frankreich und England war noch unwarscheinlicher, und trotzdem ist sie zustande gekommen. Sie ist von beiden Völkern sanktioniert worden, da in ihr der gemeinsame Haß gegen Deutschland zum Ausdruck kommt.

Ebenso haßt der Russe den Deutschen, weil Deutschland das nachbarland ist, das zum Vergleich reizt und dessen überlegene Zivilisation seinen Barbarenstolz demütigt. Die wirklich recht schlechten persönlichen Beziehungen zwischen dem Kaiser un dem König von England sind für niemand ein Geheimnis.

Die neue Verteilung der Englischen Seestreikräfte richtet sich unzweifelhaft gegen Deutschland. Wer daran noch zweifelte, dem würde die unkluge Rede Lees, des Zivillords der Admiralität, wohl die Augen geöffnet haben. Als die englische Flotte die Ostsee zum Schauplatz ihrer Manöver wählte, hat die britische Regierung offensichtlich nur von ihrem Recht Gebrauch gemacht. Es wäre unklug gewesen, wenn Deutschland sich deshalb beleidigt gefühlt hätte, und es hat in der Tat den englischen Matrosen den denkbar liebenswürdigsten Empfang bereitet. Nichtdestoweniger handelte es sich bei dem Flottenbesuch um eine Demonstration; die ungeheure numerische Ueberlegenheit der englische Streitkräfte sollte dem deutschen Volk handgreiflich vor Augen geführt werden. Das übliche Telegramm des englischen Admirals an den Kaiser war im eisigem Ton gehalten und Seine Majestät hat ebenso erwidert.

Die riesigen Anstrengungen der englische Presse, einen friedlichen Ausgang der Marokko-Angelegenheit zu verhindern, und die doch wohl unaufrichtige Leichtgläubigkeit, mit der sie alle Verleumdungen gegen die deutsche Politik aufnimmt, beweisen, wie sehr die öffentliche Meinung in Großbritannien bereit ist, jede deutschfeindliche Kombination zu begrüßen. Ueberdies ist der Hauptpunkt der Unstimmigkeit zwischen England und Rußland fürs erste beseitigt; nämlich der ungesunde Ehrgeiz Rußlands, die Grenzen seines bereits viel zu großen Reiches noch unaufhörlich zu erweitern. Rußlands militärische Niederlagen und seine inneren Schwierigkeiten werden es für lange Zeit zwingen, auf Eroberungspolitik zu verzichten.

Deutschland hat allerdings seinerseits aus dem russisch-japanischen Krieg Nutzen gezogen und seine Beziehungen zu dem Nachbarreich wesentlich gebessert. Die Petersburger Regierung ist Deutschlan für seine wohlwollende Neutralität dankbar gewesen, die es Rußland ertlaubt hat, alle verfügbaren Streikräfte nach Ostasien zu werfen; Dankbarkeit ist jedoch weder eine Eigenschaft der Völker noch der Regierungen. Wie lange mag sie wohl noch anhalten, nachdem die Gefahr vorbei ist. Rußland ist stets in der Klemme; es hat Frankreich und Deutschland mit russischen anleihen überschwemmt; wird es noch lange der Versuchung widerstehen können, sich einen neuen financiellen Markt zu seinem Vorteil zu eröffnen?

Ich habe, wohl verstanden, keinerlei Grund anzunehmen, daß bereits irgend ein positives Ergebnis erzielt worden ist; aber es gibt eine Möglichkeit, mit der man rechnen muß. Politische Konstellationen dauern nicht ewig. Vielleicht bereitet sich en Neugruppierung der Großmächte vor, die die europäische Sicherheit mindern und deshalb zu unserem Schaden ausschlagen könnte.

Genehmigen Sie usw.

(gez.) Greindl

No. 9, pagina 10/11

Baron Greindl, Gesandter Belgiens in Berlin, an Baron Favereau, Minister des Aeußeren.

Berlin, den 30 September 1905

Herr Baron!

Seitdem ich den englischen Feldjäger nicht mehr zu meiner Verfügung habe, bin ich in meiner Berichterstattung oftmals behindert. Ich habe mehrmals Mitteilungen oder Gedanken unterdrücken müssen, da es unvorsichtig gewesen wäre, sie der Post anzuvertrauen. Herr von Bonin hat die Liebenswürdigkeit, einen Brief für Sie mitzunehemen, und ich benutze diese Gelegenheit, um Ihnen über den Bündnisvertrag zu berichten, der am vergangenen 12 August zwischen England und Japan geschlossen und jetzt veröffentlicht worden ist. Die “Kölnische Zeitung” sagt über dieses diplomatische Aktenstuck: die beiden vertragschließenden Mächte garantieren sich gegenseitig ihre Besitzungen in Asien, sie erkennen ihre Sonderstellung in Korea und Tibet an, sie sichern einander die Aufrechterhaltung des Status quo in Ostasien zu und erkennen den Grundsatz der offenen Tür an. Die letztgenannten beiden Punkte tragen den Onteressen Dritter Rechnung und entsprechen den Wünschen Deutschlands. Das Blatt ist somit befriedigt. Dies wird sicherlich auch die vom Auswärtigen Amt offiziel ausgegebene Lesart sein; ich weiß aber, daß der Vertrag dort einen schlechten Eindruck gemacht hat.

Rußland wird höchstwahrscheinlich während der ersten 10 jahre nach seiner Niederlage, d. h. für die Dauer des genannten Vertrages, nicht fähig sein, einen Revanchekrieg zu führen; wenn es sich schneller erholen sollte als man denkt, so ist das Bündnis, soweit es Rußland betrifft, jedenfalls für Japan überflüssig. Für England kann es sehr angenehm und von Nutzen sein, sich die Mitwirkung des japanischen Heeres bei der Verteidigung Hindostans zu sichern; aber man sieht nicht recht ein, wie England seinem Bundesgenossen Hilfe leisten könnte, es sei denn auf finanziellem Gebiet. England kann Japan keinen einzigen Soldaten zur Verfügung stellen, und englische Kriegsschiffe hat Japan wiederum nicht nötig. Die russische Flotte ist vernichtet. Rußland kann sich allerdings verhältungsmäßig schnell neues Material verschaffen; das ist nur eine Geldfrage; aber man kann nicht im Handumdrehen Admirale und Matrosen heranbilden. Das Personal der russischen Marine hat sich entsetzlich unfähig erwiesen. Japan ist Herr des Chinesischen Meeres auf lange Jahre hinaus. Wenn es also nicht der Zweck der Vertrages ist, ein russischen Angriff zu verhindern, gegen wen anders als gegen Deutschland kann er dann gerichtet sein?

Deutschland besetzte Kiautschau sicherlich nicht um seiner selbst willen. Es wolle vielmehr eine Operationsbais gewinnen, um sich zu einer Zeit, wo die Aufteilung Chinas nahe bevorzustehen schien, einen Anteil an der Beute zu sichern. Das Englisch-japanische Bündnis bedeutet, daß Deutschland auf alle derartigen Velleitäten zerzichten soll. Die Vorsichtsmaßregel ist um so verletzender, als die sich erübrigt; denn seit den Siegen Japans muß alle Welt wissen, daß jeder Gedanke an eine Aufteilung Chinas nunmehr ausgeschlossen ist.

Als persönliche Ansicht möchte ich hinzufügen, daV der Vertrag nicht einmal den Vorteil gewährt, eine Annäherung Rußlands und Englands zu verhindern. Das englisch-japanische Bündnis ist rein defensiv. Ohne sich von der Wahrheit zu entfernen, konnte daher Lord Lansdowne sagen, daß es nicht gegen Rußland gerichtet sei. Rußland muß seine Wunden heilen, ehe es seine Eroberungspolitik wieder aufbnehmen kann. Der Augenblick ist mithin günstiger den je, um zu einer vorläufigen Abgrenzung der Einflußsphären im fernen Osten zu gelangen. Das Bündnis wäre nur dann antirussisch, wenn Rußland Angriffsgedanken hätte, und dessen ist es noch für lange Zeit unfähig.

Der Ton, auf den die Preßkampagne in England im allgemeinen gestimmt ist, läßt erkennen, daß die Annäherung an Rußland nicht zum Zwecke einer Entspannung gewúnscht wird, sondern aus deutschfeindlichen Beweggründen. Leider dürfte auch der Königvon England diese Ansicht teilen. Ich hatte kürzlich dire Ehre, Ihnen zu berichten, daß seine Beziehungen zum Kaiser herzlich slecht sind. Aus sicherer Quelle erfahre ich, daß Seine Majestät kürzlich in einer Privatunterhaltung Ansichten äußerte, die im schroffen Gegensatz zu den Friedensgedanken stehen, die man bei ihm bis jetzt angenommen hatte.

Genehmigen Sie usw.

(gez.) Greindl

No. 10, pagina 12

Baron Greindl, Gesandter Belgiens in Berlin, an Baron Favereau, Minister des Aeußeren.

Berlin, den 14 October 1905

Herr Baron!

Als Sir Charles Hardinge der russischen Regierung von dem englisch-japanischen Bündnisvertrage  Kenntnis gab, drückte er, wie Sie wissen, die Höffnung aus, Rußland werde der Tatsache der Mitteilung so wie in dem Inhalt des Vertrages den Beweis erblicken, daß Englands Absichten friedlicher und freundschaftlicher Art seien.

Einige Tage später frug der Botschafter den Grafen Lamsdorff, welchen Eindruck er beim Lesen des Vertrages erhalten habe. Aus sicherer Quelle höre ich, daß Graf Lamsdorff geantwortet hat, alle, mit denen er Gelegenheit gehabt habe, den Vertrag zu besprechen, zunächst Kaiser Nikolas II selber, hätten nicht im geringsten an der gegen Rußland gerichteten Spitze des Vertrages gezweifelt.

Sir Charles Hardinge bekämpfte diese Ansicht lebhaft und behauptete, man könne den Vertrag ebensogut als gegen Deutschland gerichtet ansehen. Nur ein Passus, nähmlich die Erwähnung Indiens in dem Vertrage, könne die Meinung rechtfertigen, daß man Rußland im Auge gehabt habe; aber, so fuhr der Botschafter fort, man müsse in Betracht ziehen, daß es sich um einen reinen Defensivvertrag handele. Wenn Rußland ebenso friedlich sei wie England, könne es dem Vertrage vollkommen beistimmen.

Englands Anstrengungen, das Bündnis mit Japan in St. Petersburg so auszulegen, als ob es nicht gegen Rußland gerichtet sei, bestätigen den uns bereits bekannten Wunsch des Londoner Kabinetts, sich Rußland zu nähern. Sie werden sich erinnern, Herr Baron, daß Freiherr von Richthofen in der Unterhaltung, über die ich Ihnen am 23 September zu berichten die Ehre hatte, mir gesagt hat, er glaube nicht an eine russich-englische Entente, weil zu einer solchen die Grundlage fehle.

Trotzdem ist eine mögliche Grundlage vorhanden. England desinteressiert sich jetzt vollkommen an dem Schicksal der Türkei, deren Erhaltung solange der Grundsatz seiner Politik gwesen war. Es könnte Rußland in Kleinasien freie Hand lassen. In seinen Augen würde eine derartige Kombination außerdem den Vorzug haben, die Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland zu trüben, und Deutschlands Isolierung ist augenblicklich das Hauptziel der englischen Politik.

Genehmigen Sie usw.

 

(gez.) Greindl